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Abortion - Eine erbitterte Debatte mit folgenschweren Konsequenzen in den USA (VI) - Rechtsprechung 1973 und 2022

Veröffentlicht am 03.10.2023

Mitte der 1960er brach eine Röteln-Epidemie in den USA aus, mit schwerwiegenden Folgen für viele Familien.

Ca.11.0000 Frauen, die sich während der Schwangerschaft mit dem Rubeola-Virus infizierten - bis 1971 gab es keinen wirksamen Impfschutz - erlitten eine vorzeitige Fehlgeburt, eine Totgeburt oder verloren ihre Neugeborenen kurz nach der Entbindung. Schätzungen gehen davon aus, dass weitere 20.000 Babies mit Behinderungen auf die Welt kamen, u.a. Taubheit, Wachstumsstörungen, Herzfehler oder auch kognitive Entwicklungsschäden.1
Viele Gynäkolog*innen unterstützten deshalb den Wunsch von erkrankten Schwangeren nach einem Abbruch. Da das Leben der werdenden Mutter nicht gefährdet war, stand eine Abtreibung unter Strafe. Die behandelnden Ärzt*innen liefen Gefahr ihre Approbation zu verlieren. Im schlimmsten Fall mussten sie mit einer Verhaftung rechnen.

Letzteres schüchterte die Gynäkologin Dr. Jane Hodgson aus Minnesota nicht ein. Zu häufig hatte sie erlebt, dass verzweifelte Frauen durch den Eingriff einer unqualifizierten Person starben.

Nachdem sie 1970 eine illegale Abtreibung bei einer infizierten Mutter von drei Kindern durchgeführt hatte, zeigte sie sich selbst an. “Ich hatte eine Entscheidung zu treffen zwischen den vorgeschriebenen Gesetzen oder meiner Verpflichtung der Patientin, meinem Berufsstand und der Gesellschaft gegenüber.”2 Das Gericht verurteilte Dr. Hodgson zu einem Monat Haftstrafe und einem weiteren Jahr auf Bewährung, ihre ärztliche Zulassung in Minnesota wurde suspendiert.3

Das Dilemma von Ärzt*innen und betroffenen Frauen war damit in den Blick der Öffentlichkeit gerückt. Es mehrten sich immer lauter werdende Proteste gegen die restriktive Rechtsprechung. Eine legale Wende erfolgte jedoch erst drei Jahre nach Dr. Hodgsons Verurteilung durch die Grundsatzentscheidung des Obersten Gerichtshofs (Supreme Court) ‘Roe vs Wade’4.

Wie kam es dazu?

Als die Texanerin Norma McCorvey 1969 mit 21 Jahren zum dritten Mal schwanger wurde, wollte sie einen Schwangerschaftsabbruch bewirken. Wegen anhaltenden Drogenkonsums musste sie das Sorgerecht für ihre ersten beiden Kinder bereits aufgeben. Abtreibung war in Texas strafbar, ein illegaler Abbruch kam aus Geldmangel für sie nicht in Frage.
Zwei Rechtsanwältinnen, Sarah Weddington & Linda Coffee, nahmen sich ihrer an, um damit einen juristischen Präzedenzfall zu schaffen. Unter dem Pseudonym ‘Jane Roe’ leiteten sie ein Verfahren gegen den zuständigen Distrikts-Staatsanwalt Henry Wade ein.
Die Grundlage ihrer Anklage beruhte auf dem 14. Verfassungszusatz (1868).5 Ihrer Meinung nach stellten die Abtreibungsgesetze eine unzulässige Freiheitsbeschränkung der Frauen in Texas dar - sie verstießen gegen ihr von der Verfassung garantiertes Recht auf Privatsphäre. Das Distriktgericht befand das Abtreibungsverbot zwar für verfassungswidrig, unterließ es jedoch, der Landesregierung die fortgesetzte Anwendung des Gesetzes zu untersagen. Auch Henry Wade ignorierte das Urteil und klagte weiterhin betroffene Frauen an.

So zog sich das Verfahren drei Jahre durch die juristischen Instanzen (in der Zwischenzeit hatte Norma McCorvey ihr Kind geboren und es zur Adoption freigegeben), bis am 22. Januar 1973 in einer 7:2 Abstimmung die Entscheidung des texanischen Gerichts vom Supreme Court bestätigt wurde: Eine unverhältnismäßig restriktive staatliche Regulierung im Hinblick auf Abtreibung ist verfassungswidrig.6

Über Nacht wurde mit diesem Grundsatzurteil die seit einem Jahrhundert währende Kriminalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen rechtsunwirksam.

In den Folgejahren fiel die Zahl der illegalen Abtreibungen beträchtlich (von 130.000 pro Jahr auf 17.000 in 1975), ebenso wie die damit verbundenen Todesfälle (39 in 1972 auf 3 in 1975).7
Bis 1980 entstanden Kliniken, die eine Abtreibung unter sicheren und bezahlbaren Umständen anboten. Dr. Hodgson blieb ein Gefängnisaufenthalt erspart - sie hatte Berufung beim Bundesverfassungsgericht eingelegt -, die Verurteilung wurde aufgehoben. Bis zum Ende ihrer beruflichen Laufbahn setzte sie sich beharrlich für eine Verbesserung der Gesundheitsversorgung von Frauen ein.8

In christlichen Kreisen wurde ‘Roe vs Wade’ weder als medizinischer noch als juristischer Fortschritt wahrgenommen. Ganz im Gegenteil, es bildeten sich sofort regionale “anti-abortion-groups”, befeuert vor allem von katholischen Bischöfen. Innerhalb weniger Wochen schlossen sie sich zu einer nationalen Bewegung zusammen, mit dem Ziel das Urteils zu revidieren.9

In den folgenden vier Jahrzehnten gewann die ‘pro-life-Bewegung’ zunehmend an Stärke. Befeuert wurden sie durch mehrere Gerichtsurteile, welche den Rahmen von ‘Roe vs Wade’ zunehmend einengten, jedoch nicht vollständig aufhoben.
Treibende Kraft hinter der Bewegung war Joe Scheidler, Vater von sieben Kindern, der 1980 die Pro-Life-Action-League gründete. Gemeinsam mit seinem Sohn Eric kämpfte er bis zu seinem Tod (2021) gegen die “Tötung ungeborenen Lebens”, in der Gewissheit, dass “wir für Gott kämpfen”10,11.

John Jansen, Direktor der Jugendorganisation von Pro-Life-Action-League fasste 2014 die Aktivitäten und Errungenschaften der Organisation u.a. so zusammen: “Wir bewirkten den Erlass zahlreicher Pro-Life-Gesetze auf lokaler, staatlicher und nationaler Ebene, und die Schließung Hunderter Abtreibungs-Kliniken. Eine Mehrheit der Ärzte weigern sich jetzt, eine Abtreibung durchzuführen. Wir haben das Thema Abtreibung auf den Titelseiten gehalten.”12

Vor Beginn seiner Amtszeit (2017-2021) versprach Donald Trump den Obersten Gerichtshof mit konservativen Richtern zu besetzen, welche das Urteil ‘Roe vs Wade’ aufheben würden. Mit der Benennung von Neil Gorsuch (2017), Brett Kavanaugh (2018) und Amy Barrett (2020)13 hielt er sein Versprechen ein.
Obwohl sie sich während der Befragung durch den Justizausschuss mit eindeutigen Äußerungen zu ‘Roe vs Wade’ zurückhielten, kam ihr Verdikt im Fall ‘Dobbs vs Jackson Women’s Health Organization’ nicht überraschend.

Die letzte noch verbliebene Klinik in Jackson, Mississippi, in der seit 1995 Abtreibungen durchgeführt wurden, hatte 2018 Klage gegen Thomas Dobbs, Leiter des Gesundheitsministeriums erhoben. Die Organisation stellte die Rechtmässigkeit eines Gesetzes in Frage, in der eine Abtreibung (bis auf wenige Ausnahmen) nach der 15. Schwangerschaftswoche verboten worden war, da es eindeutig gegen ‘Roe vs Wade’ verstieß. Das Landesparlament war sich dessen bewusst, verabschiedete das Gesetz dennoch in der Hoffnung, dass es zu einer erneuten Überprüfung von ‘Roe vs Wade’ durch das Bundesverfassungsgericht kommen würde.14,15
Ihre Erwartungen wurden nicht enttäuscht. Die konservative Mehrheit entschied, dass die Verfassung kein Recht auf Abtreibung gewährt, da sie diesbezüglich keinen ausdrücklichen Hinweis enthält. Ein Recht auf Abtreibung sei nicht in den Traditionen der Nation verankert. Im Gegenteil, in der Geschichte des Landes sei sie lange Zeit als Straftat geahndet worden.16

Über Nacht war 'Roe vs Wade' außer Kraft gesetzt worden.


Links (englischsprachige Seiten mit Fotos)
a) Dr. Jane Hodgson, 23.01.1915 – 23.12.2006, Pionierin der "abortion rights movement" (Bewegung für Abtreibung)
"Changing the face of Medicine" (link) - wikipedia

b) Linda Coffee, 25.12.1942 (wikipedia)

c) Sarah Weddington, 5.02.1945 – 6.12.2021 (wikipedia)

© Text: Michaela Schneider, Frauen in der Einen Welt

zu den Fortsetzungen: (I) (II) (III) (IV) (V) (VI) (VII) (VIII)

  • Historie
  • Bundesverfassungsgerichtsurteil von 1973 Roe versus Wade
  • Bundesverfassungsgerichtsurteil von 2022 (Dobbs versus Jackson)
  • Gesellschaftliche Konsequenzen

zur Ausstellung "GEBURTSKULTUREN. Gebären und Geboren werden" (link)

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